1. Historischer Hintergrund und Verteilung im Meer
Im Zusammenhang mit dem 1. und 2. Weltkrieg wurden große Mengen von Kampfmitteln in deutsche Meeresgewässer und die deutsche ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) eingebracht. Den weitaus größten Anteil macht Munition aus, die nach dem 2. Weltkrieg in ausgewählte Versenkungsgebiete verklappt wurde. Die hierbei oft genannte Zahl von 1,6 Millionen Tonnen lässt sich nicht zweifelsfrei bestätigen, erscheint aber auf Basis des deutschen Munitionsbestandes im Mai 1945 realistisch. Hinzu kommen ca. 5.090 Tonnen chemische Kampfmittel, die in den deutschen Gewässern von Nord- und Ostsee verklappt wurden. Neben den konzentrierten Vorkommen in Versenkungsgebieten, wurde durch Kampfhandlungen, Übungen und Unfälle während und nach den Weltkriegen weitere Munition in schwer nachzuvollziehender Art und Menge im Meer verteilt. Auch in den Gewässern unserer europäischen Nachbarn ist Munition zu finden. Hervorzuheben ist hierbei die hohe Belastung der Gewässer des Vereinigten Königreichs.
2. Gefahr für Leib und Leben
Wie Blindgänger an Land, stellen auch Munitionsaltlasten im Meer für Menschen, die mit ihnen in Berührung kommen, grundsätzlich eine Gefahr für Leib und Leben dar. Ein Kampfmittel beispielsweise beim Ankern versehentlich zur Detonation zu bringen ist zwar relativ unwahrscheinlich, stellt aber dennoch ein reales Risiko in den Gewässern der deutschen Ostund Nordsee dar. Berufsgruppen, die mit dem Meeresgrund interagieren, wie Fischer, Beschäftigte in der Nassbaggerei und in der Meeresforschung sind hiervon in erhöhtem Maße betroffen. Hinzu kommt für Strandspaziergänger oder Wattwanderer die Möglichkeit, mit angespülten Munitionsresten oder selbstentzündlichem weißen Phosphor in Kontakt zu geraten. Dem höchsten Risiko sind jedoch Angestellte von Kampfmittelräumdiensten und -firmen ausgesetzt. Darüber hinaus liegen Teile der verklappten Munitionskörper küstennnah in relativ geringen Wassertiefen und könnten in die Hände unbefugter Personen gelangen.
3. Umweltbeeinträchtigungen
Viele sprengstofftypische Verbindungen sind giftig, erbgutverändernd und krebserregend. Da die Munition sukzessive durchrostet und in einigen Gebieten bereits erhebliche Mengen an Explosivstoffen offen am Meeresgrund liegen, ist der Eintrag in die Umwelt schon jetzt nachweisbar. In der Nähe offen liegender Explosivstoffbrocken wird eine um ein Vielfaches höhere Belastung mit toxischen Stoffen gemessen als in nicht belasteten Vergleichsgebieten. Zudem wurden in Miesmuscheln und Fischen aus Versenkunsgebieten höhere Konzentrationen von TNT und TNT-Umbauprodukten ermittelt als in Artgenossen an Standorten ohne Munition. Je nach Standort und Region unterscheiden sich die Konzentrationen in Plattfischen (Klieschen). Im Versenkungsgebiet Kolberger Heide sind sie etwa 100-mal höher als in der Lübecker Bucht und in der Außenjade. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass TNT und seine Umbauprodukte auch im essbaren Anteil von Plattfischen aus den Munitionsverklappungsgebieten nachgewiesen wurden. Auch in Fischen, die an munitionsbelasteten Schiffswracks in der Nordsee gefangen wurden, ließen sich diese Explosivstoffe mittlerweile nachweisen. Analysen von Miesmuschelproben aus der Umweltprobenbank zeigen für das vergangene Jahrzehnt ebenfalls einen leichten Anstieg von Explosivstoffen. In Untersuchungen der benthischen Biodiversität wurde festgestellt, dass einige Arten in Wasser mit erhöhten TNT-Konzentrationen vermehrt vorkommen
4. Beeinträchtigung der Meeresökonomie
In bekannten Versenkungsgebieten finden in Deutschland kaum wirtschaftliche Aktivitäten statt. Die Flächen sind verhältnismäßig klein, und eine wirtschaftliche Nutzbarmachung ist derzeit nicht notwendig. Dennoch muss, wo immer auf dem Meer ein Bauvorhaben stattfindet, aufgrund der zufällig verteilten Munition (siehe Abschnitt 1) zunächst eine technische Erkundung und gegebenenfalls eine Kampfmittelbeseitigung stattfinden. Dies hat im Zusammenhang mit dem Ausbau von erneuerbaren Energien eine besondere Relevanz. Auch die angestrebte Verbreiterung der Fahrrinne nordöstlich der Insel Wangerooge ist erwähnenswert, da diese in Teilen die Räumung eines Versenkungsgebiets erfordern wird. Es existieren keine Zahlen zu den Kosten, die diese Maßnahmen bereits verursacht haben. Die notwendigen Such- und Räumkampagnen führten in den letzten Jahren aber auch zu technischen Innovationen, durch die eine effiziente Räumung von Versenkungsgebieten technisch machbar erscheint.
5. Kampfmittelsuche
Für die Kampfmittelsuche im Meer stehen mehrere, üblicherweise gleichzeitig genutzte, Sensoren (Magnetometer, Metalldetektoren und verschiedene Sonare) zur Verfügung. Die Suche nach Kampfmitteln in Vorbereitung von Bauvorhaben wird in der Regel von privaten Offshore-Vermessungsunternehmen durchgeführt. Im Rahmen verschiedener Forschungsvorhaben wurden zudem einige Versenkungsgebiete in Ost- und Nordsee untersucht. Speziell für einige Versenkungsgebiete in der deutschen Ostsee kann ein gutes Lagebild erstellt werden. Bislang wurden hierdurch jedoch lediglich Gebiete, die nach historischen Recherchen ca. 100.000 Tonnen Kampfmittel enthalten, systematisch erkundet und kartiert.
6. Kampfmittelbergung
Zur Räumung von Kampfmitteln in der komplexen, dynamischen Meeresumwelt sind nur wenige Organisationen und Firmen befähigt. In den deutschen Küstengewässern sind die Kampfmittelräumdienste der Länder hierfür zuständig. Hinzu kommen einige private Räumfirmen – eine Branche, die weltweit nahezu einmalig ist (siehe Punkt 10 – Wirtschaftliches Potenzial), da die Aufgabe der Kampfmittelräumung im Meer in anderen Ländern meist dem Militär zufällt. Die Stärke des privaten Sektors hat womöglich deutlich zur Innovationskraft der Branche beigetragen. Während hierzulande ein Großteil der gefundenen Kampfmittel geborgen und nur selten gesprengt wird, ist in anderen Ländern das absichtliche Sprengen ein üblicherer Vorgang. Ersteres ist zu bevorzugen, haben Sprengungen doch gravierende Auswirkungen auf die Umwelt. Besonders hervorzuheben sind die Effekte auf geschützte Meeressäuger wie den Schweinswal. Darüber hinaus gelangen Teile der Sprengstoffe durch Detonationen in die Meeresumwelt. Die Kampfmittelräumung ist mithilfe von Tauchern, ROVs (ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen), Multi-Tools und Crawlern möglich.
Das laufende Sofortprogramm „Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee“ hat unter anderem zum Ziel die Möglichkeiten der Räumung großer Mengen (vorwiegend unbezünderter) Munition aus Versenkungsgebieten zu eruieren. Die im Rahmen von Piloträumungen gewonnenen Erkenntnisse sollen einen Grundstein für anschließende kontinuierliche Räummaßnahmen darstellen.
Im Rahmen des Projekts CONMAR wird unter Beteiligung der relevanten Interessengruppen eine Prioritätenliste bekannter Munitionshaufen erstellt. Diese sollten nach Abschluss des Sofortprogramms zuerst beräumt werden. Um die Priorisierung solide zu gestalten, werden neben Daten des CONMAR Konsortiums auch Informationen einer Vielzahl von Bundes- und Landesbehörden genutzt. Diese werden über ein föderiertes Management miteinander verschnitten.
Links
Frey et al. 2019: Qualitätsleitfaden Offshore-Kampfmittelbeseitigung
Frey et al. 2023: Kampfmittel im Meer – Der Umgang mit Belastungsschwerpunkten
Frey 2024: UXO and environmental risk factors impacting EOD operations in German waters
Sichermann 2024: Das Sofortprogramm Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee
7. Kampfmittelentsorgung
Die Kampfmittelvernichtung findet in Deutschland an verschiedenen Standorten statt. Der wichtigste Betrieb ist die GEKA mbH, die in Munster weit entfernt von der Küste ansässig ist. Die Kapazitäten der bestehenden Betriebe sind ausgelastet mit der Folge, dass eine umfassende Räumung von Kampfmitteln aus dem Meer derzeit dazu führen würde, dass diese an Land oder unter Wasser zwischengelagert werden müssten. Es gibt daher Konzepte, die eine Vernichtung der Kampfmittel direkt auf See vorsehen. Die hierfür notwendige Technologie existiert, wurde bislang jedoch nicht in einer systemischen Technologiekette zusammengeführt. Im Rahmen des Sofortprogramms wird eine solche Entwicklung ausgeschrieben. Ob die Vernichtung auf See oder auf einer Liegenschaft direkt an der Küste (oder die gleichzeitige Verfolgung beider Ansätze) sicherer und zügiger umzusetzen ist, wurde bislang nicht untersucht. Unabhängig vom Standort der Anlage sind Effizienzgewinne bei der Entsorgung von Munition notwendig, damit die Entsorgung mit der Bergung schritthalten kann.
8. Nationale Dimension – Akteure und Zuständigkeiten
Der Themenkomplex Munition im Meer betrifft eine große Anzahl öffentlicher und privater Akteure. Auf Bundesebene werden Verantwortungsbereiche des BMUV, BMWK, BMBF, BMVg, BMDV und BMEL und ihrer nachgeordneten Behörden berührt. Mit dem Sofortprogramm hat das BMUV die Verantwortung für das Thema de facto angenommen. Hinzu kommen auf Landesebene der fünf Küstenbundesländer jeweils die Ressorts für Umwelt, Verbraucherschutz und Inneres, letztere insbesondere vertreten durch die staatlichen Kampfmittelräumdienste. Im BLANO Expertenkreis ‚Munition im Meer‘ findet ein regelmäßiger Austausch von Vertretern des Bundes und der Länder zur Problematik mariner Munitionsaltlasten statt. Darüber hinaus existieren jeweils dezidierte privatwirtschaftliche Fachunternehmen für die einzelnen Phasen der Kampfmittelräumung – historische Erkundung, technische Erkundung, Räumung und Entsorgung. Außerdem vertreten einschlägige Verbände die Interessen von Umwelt und Natur.
Es existiert eine Vielzahl von relevanten Gesetzen, Vorschriften und Rahmenbedingungen. Dies ist der internationalen, nationalen und föderalen Bereichsaufteilung sowie dem Wasser-Land-Übergang geschuldet und lässt sich nicht ohne Weiteres auflösen.
9. Internationale Dimension
Munitionsaltlasten sind eine globale Herausforderung, die daher auch eine Vielzahl an Möglichkeiten eröffnet. Es existieren vielfältige Formate zur internationalen Zusammenarbeit (z.B. in JPI Oceans, HELCOM, BSCP oder der NATO). Die Spitzenforschung aus Deutschland und die hiesigen innovativen Unternehmen nehmen hierbei eine zentrale Rolle ein. Über das dadurch erworbene internationale Ansehen für die Bundesrepublik, bieten sich Absatzmöglichkeiten für technische Entwicklungen. Die erfolgreiche Räumung eines Versenkungsgebiets kann als Fallstudie für den Beginn der globalen Offshore-Altlastenbeseitigung dienen. Gemeinsam mit den anderen Ostseeanrainerstaaten der EU hat sich Deutschland zu einer Reihe von Maßnahmen verpflichtet. Hierzu gehört eine Risikobewertung bekannter Gebiete und gegebenenfalls deren anschließende Räumung.
10. Wirtschaftliches Potential
Deutschland ist eines der wenigen Länder in denen der Umgang mit Kampfmittelaltlasten im Meer nicht in die Zuständigkeit der Marine fällt. Das gesamte Vorgehen der Kampfmittelbeseitigung im Meer von der Suche bis hin zur Bergung kann – mit Unterstützung der Kampfmittelräumdienste der Länder – fast vollständig durch den gewerblichen Sektor abgedeckt werden. Lediglich die abschließende Vernichtung der Munition erfolgt in der Regel durch staatliche Stellen.
In der Vergangenheit wurden Innovationen in diesem Sektor in großem Maße durch den Bau der Offshore-Windkraftanlagen getrieben. Die ehrgeizigen Ausbauziele bei Offshore-Wind bieten den Firmen in diesem Sektor daher bereits interessante Perspektiven. Darüber hinaus vergrößert das Sofortprogramm und damit einhergehend der politisch verkündete Einstieg in die großskalige Kampfmittelbeseitigung die Wachstumsmöglichkeiten und kann so einen spürbaren Innovationsschub auslösen. Weiterhin führt der Wettbewerb unter den Unternehmen zu einer Entwicklung attraktiver Angebote, zu einer kontinuierlichen Senkung der Kosten und zu einer Steigerung der Effizienz im Gesamtprozess. Die Entwicklungen der letzten Jahre in den Bereichen Sensorik, Datenauswertung sowie robotische Systeme verdeutlichen das hohe Innovationspotential.
Den hiesigen Unternehmen bietet sich so die Chance, weitere Hightech-Lösungen zu entwickeln, die am Standort Deutschland Arbeitsplätze und Wertschöpfung schaffen und mit denen sie auch internationale Märkte bedienen können.
11. Laufende Forschungsvorhaben
Neben den oben erwähnten Forschungsvorhaben existieren folgende weitere Forschungs- und Entwicklungsprojekte mit deutscher Beteiligung:
- BorDEx: Entwicklung eines beschleunigten und ortsveränderlichen Verfahrens zur Munitionsentsorgung
- CONMAR: Erarbeitung eines ganzheitlichen Konzepts für die Räumung der Munition in der deutschen Osesee
- CONMAR-2: Erweiterung des CONMAR-Ansatzes auf die deutsche Nordsee (Start: Dezember 2024)
- IRAV: Entwicklung einer Plattform zur Industrielle Räumung von Altlasten in Verklappungsgebieten
- Marispace-X: Digitaler Datenraum für Munition im Meer auf Grundlage der europäischen Dateninfrastruktur Gaia-X
- MMinE-SwEEPER: Entwicklung von Technologien zur Munitionsdetektion und -räumung sowie Stärkung der europäischen Zusammenarbeit
- MUNIMAP: Entwicklung von Rahmenbedingungen für Behörden zur ostseeweit koordinierten Räumung von Munition
- MuniRisk: Risikobewertung von Munition in der Ostsee
- REMARCO: Management und Überwachung von Munition in der Nordsee
- Zusätzlich existieren weitere toxikologische Auftragsarbeiten die vom Land SH oder dem Bund finanziert werden
12. Ansprechpersonen
Wissenschaftliche Grundlagen und Projekt CONMAR
Torsten Frey & Prof. Dr. Jens Greinert
DeepSea Monitoring Group, GEOMAR Helmholtz Centre For Ocean Research Kiel
Dr. Matthias Brenner
Section Ecological Chemistry, Alfred-Wegner-Institut
Prof. Dr. Edmund Maser
Institute of Toxicology and Pharmacology for Natural Scientists, University Medical School Schleswig-Holstein
Dr. Anita Künitzer
Umweltbundesamt